Sinn, Auftrag, Mission am Beispiel des alttestamentlichen Gottesvolks und des heutigen Israel

 Für jedes einzelne Leben und jede Gemeinschaft stellt sich die Frage nach dem Sinn. 

In besonderer Weise hat sie sich dem alttestamentlichen Gottesvolk und dem heutigen Israel gestellt. Lange war es der Versuch, dem Auftrag seines Gottes zu folgen, der ihm das gelobte Land verheißen hat und in der babylonischen Gefangenschaft die Rückkehr als Ziel gesetzt hat.

Im christlichen Verständnis wurde aus diesem Auftrag die Mission: Gehet hin in alle Welt. Die Mutterländer der europäischen Kolonisation sind ihrerseits einer Mission gefolgt: Ausbreitung der europäischen Zivilisation und des Christentums und später Ausbreitung der Ideen der europäischen Aufklärung. Bei dieser Mission haben die christlichen Missionare gewiss eine bessere Rolle gespielt als die Kolonisatoren. Gegenwärtig haben diese sich freilich aus gutem Grund von patriarchalischer "Entwicklungshilfe" mehr und mehr zurückgenommen auf Hilfe zur Selbsthilfe. Statt Hilfe für die "Dritte Welt", Kooperation mit dem "Globalen Süden". (Oder ist es doch eine Fortsetzung von Kolonialismus und Imperialismus in neuer Form: Neokolonialismus und Neoimperialismus?)

Dem Gottesvolk ist nach der babylonischen Gefangenschaft mit den erneuten Vertreibungen aus dem gelobten Land in alle Welt (Eroberung Jerusalems durch Titus im Jahre 70) der Gefangenschaft in Gettos, ständigen Pogromen mit der Kulmination im großangelegten Vernichtungsversuch durch den deutschen Nationalsozialismus, dem Holocaust, eine ungeheuerliche  Prüfung auferlegt worden, auf die es mit dem Zionismus, dem Versuch der Rückkehr in das gelobte Land und die Gründung des Staates Israel geantwortet hat.
Dem weltweiten Antisemitismus zu entkommen in ein Land, wo alle die gleiche Erfahrung teilen und gemeinsam einen Neuanfang unternommen haben.
Entstanden ist daraus der Nahostkonflikt und als Neuestes die Interpretation von Kritik an der Politik der jeweiligen Regierung als Antisemitismus.
Andererseits aber auch ein verschärfter Antisemitismus, der die Aktionen der Hamas im Nachhinein mit dem Vorgehen des israelischen Militärs rechtfertigt, auch wo es die Grenze der Verhältnismäßigkeit einzuhalten versucht.


"Die derzeitige Situation, die durch den an Grausamkeit nicht zu überbietenden Angriff der Hamas und Israels Reaktion darauf geschaffen wurde, hat zu einer Kaskade von moralisch-politischen Stellungnahmen und Demonstrationen geführt. Wir sind der Auffassung, dass bei all den widerstreitenden Sichtweisen, die geäußert werden, einige Grundsätze festzuhalten sind, die nicht bestritten werden sollten. Sie liegen der recht verstandenen Solidarität mit Israel und Jüdinnen und Juden in Deutschland zugrunde.

Das Massaker der Hamas in der erklärten Absicht, jüdisches Leben generell zu vernichten, hat Israel zu einem Gegenschlag veranlasst. Wie dieser prinzipiell gerechtfertigte Gegenschlag geführt wird, wird kontrovers diskutiert; Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Vermeidung ziviler Opfer und der Führung eines Krieges mit der Aussicht auf künftigen Frieden müssen dabei leitend sein. Bei aller Sorge um das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung verrutschen die Maßstäbe der Beurteilung jedoch vollends, wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden.

Insbesondere rechtfertigt das Vorgehen Israels in keiner Weise antisemitische Reaktionen, erst recht nicht in Deutschland. Es ist unerträglich, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Drohungen gegen Leib und Leben ausgesetzt sind und vor physischer Gewalt auf der Straße Angst haben müssen. Mit dem demokratischen, an der Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde orientierten Selbstverständnis der Bundesrepublik verbindet sich eine politische Kultur, für die im Lichte der Massenverbrechen der NS-Zeit jüdisches Leben und das Existenzrecht Israels* zentrale, besonders schützenswerte Elemente sind. Das Bekenntnis dazu ist für unser politisches Zusammenleben fundamental. Die elementaren Rechte auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit sowie auf Schutz vor rassistischer Diffamierung sind unteilbar und gelten gleichermaßen für alle. Daran müssen sich auch diejenigen in unserem Land halten, die antisemitische Affekte und Überzeugungen hinter allerlei Vorwänden kultiviert haben und jetzt eine willkommene Gelegenheit sehen, sie ungehemmt auszusprechen."

(Grundsätze der Solidarität von Jürgen Habermas u.a.)

Kommentar von Fontanefan
Ein Existenzrecht Israels hat für mich bisher nie außer Frage gestanden, bis ich jetzt neuen Interpretationen dieses Begriffs begegnet bin. 
Zum einen der von Richard Schneider
"Eine vollständig pluralistische Gesellschaftsform mit totaler Gleichstellung aller gesellschaftlichen Gruppen wird es in Israel nie geben, Es wäre das Ende als Staat, wie er jetzt existiert." (Sache mit Israel, S.69)
Zum anderen der Interpretation der Siedler, die die von Israel 1967 besetzten Gebiete mit zu dem Israel in ihrem Sinne rechnen (Eretz Israel), wo die Palästinenser nur leben dürfen, wenn sie anerkennen, dass die Siedler "die Herren" sind, und die Araber dem Militärrecht unterstehen. Denn dann herrschte die Apartheid, die im heutigen Israel (noch?) nicht existiert.
Schließlich zeichnet sich ab, dass unter der Regierung Netanyahu die Demokratie abgeschafft werden kann, was dann das Israel "wie es jetzt existiert" werden könnte. Denn da wären die "elementaren Rechte auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit sowie auf Schutz vor rassistischer Diffamierung" , die die Grundsätze der Solidarität fordern, eben nicht mehr garantiert.


 

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