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Es werden Posts vom Juli, 2023 angezeigt.

Universum ohne Moral

  Von   Zhao Tingyang , ZEIT, 1 2. Juli 2023 [...]  Die Moderne ist sicherlich eine große Errungenschaft, doch könnte sie mit der Überheblichkeit des Individuums zerstört werden, wenn dieses das Recht auf die Definition seiner eigenen Identität beansprucht oder jeden Tag als ein anderes Geschlecht anerkannt werden möchte. So verführerisch dies klingt, wird eine Begleiterscheinung davon unvermeidlich in einem Bedeutungsverlust von allem bestehen. Am Ende würde sich der maßlose Individualismus des Westens in sein Gegenteil verkehren und Aufklärung in Gegenaufklärung umschlagen, wenn jeder Begriff, jeder Wert und jede Identität so mehrdeutig werden, dass sie nichts mehr bedeuten und sich in Luft auflösen. Wir stecken heute in einer tiefen Kulturkrise. Wir sind orientierungslos. Diese Krise  zeugt von der Unfähigkeit, dass wir trotz unserer angeblichen Aufgeklärtheit nicht  in der Lage sind, die Grundbegriffe oder Werte unseres Lebens und unserer Kultur  zu verteidigen. Und deshalb können

Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter von Dipesh Chakrabarty

Auszug aus einer Leseprobe  "[...]  Laut Haffs Argumentation ist die Menschenpopulation in ihrem  derzeitigen Umfang »zutiefst auf die Existenz der Technosphäre  angewiesen«, ohne die sie »schnell auf ihren steinzeitlichen Grundwert  von nicht mehr als zehn Millionen […] Personen zurückge hen würde«. Mit Haff könnte man also sagen, dass Technologie  zu einer Bedingung von Biologie, zur Bedingung für die Existenz einer so großen Zahl von Menschen auf dem Planeten geworden  ist. Haffs Annahme einer Technosphäre versetzt uns in die Lage  zu sehen, wie »entfesselt«, mit Carl Schmitt gesprochen, Technologie  heute geworden ist – und wie die Menschen dank technologischer  Macht die »Erde« bereits in ein Raumschiff für sich und  für andere Lebensformen verwandelt haben, deren eigene Existenz  auf das menschliche Gedeihen angewiesen ist. In seinem  »Gespräch über den neuen Raum« von 1955 legte Schmitt einem  fiktiven Charakter, Herrn Altmann (einem Althistoriker), eine  grundlegende Un

Geschichtsschreibung, Geschichtsphilosophie und Geschichtsprophetie im Mittelalter

 " Die große europäische Geschichtsschreibung, Geschichtsphilosophie und Geschichtsprophetie sind Kinder des offenen Europa des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Geschichtsschreibung setzt einen offenen Sinn voraus, der sich nachdenklich und froh einer Fülle von Erfahrungen stellt. Geschichtsphilosophie und Geschichtsprophetie setzten die Erfahrung eines großen Schmerzes voraus, eine tiefe Beunruhigung: Welcher Sinn liegt in dem Geschehen der Zeit? Was bedeutet der Zusammenbruch der großen Mächte? Die bedeutende Geschichts schreibung in dieser Zeit ist vor allem eine Sache der Angelsachsen, Normannen, dann auch der Franzosen, zuletzt der Spanier. Diese suchen sich und ihren Zeitgenossen Rechenschaft zu geben über den großartigen Aufstieg ihrer Völker zu starken Staaten, aber auch über die Kämpfe innerhalb des eigenen Volkes. Die Geschichts philosophie ist vor allem eine Sache der Deutschen. Diese sind in dem Fall des Heiligen Römischen Reiches, der Schwäche der Kirche, der erstau

Von der Scholastik zu Duns Scotus und Ockham

  Thomas ist der Rechten als Traditionalist, Aufklärer und Aristoteliker, als Verehrer und Freund der Vernunft und eines kühl wägenden rationalen Denkens, das sich streng an seine wissenschaftliche Methode hält, verdächtig. Andererseits wirft ihm die Linke vor, er wage es nicht, konsequent seine eigenen Gedanken zu Ende zu denken, und er versuche vor allem, Aristoteles, die Araber und das weltimmanente philosophische Denken unter einen vollkommen unnötigen theologischen Überbau zu stellen und so dessen wahre Bedeutung zu verdecken Das Geheimnis der schwebenden Mitte, des Denkens und Lebenswerkes des Thomas von Aquin hängt eng mit seiner geschichtlichen Weltstunde und seiner Persönlichkeit zusammen. Sir Henry Slesser hat Tomas [...] den ersten 'Liberalen' genannt. Englische Denker des schöpferischen Kompromisses, eines lebendigen Konservatismus, nicht zuletzt die bedeutenden Theologen der frühen Church of England um Thomas Hooker haben sich bewusst und unbewusst zu Thomas hinge

Jede Freiheit ist begrenzt durch die Freiheit der anderen

 Jede Freiheit ist begrenzt durch die Freiheit der anderen Zu diesem Gedanken gibt es viele Formulierungen, bei denen man sich freilich oft auf Autoren beruft, die ihn nicht so formuliert haben, wie man ihn zitiert.   Z.B. Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden“ (Deren genaue Formulierung ist freilich: „Freiheit ist immer Freiheit des  anders Denkenden .“   Link zur Quellenangabe   mit Angabe des Kontexts) Schon vor 9 Jahren hat Albrecht bei gutefrage.net in seiner souveränen Weise dazu genau recherchiert: https://www.gutefrage.net/frage/von-wem-stammt-das-zitat–meine-freiheit-endet-dort-wo-die-freiheit-des-anderen-beginnt „Der Gedanke ist sehr alt. Wer ihn zuerst hatte, ist wohl kaum sicher zu belegen. Zu einer genauen Formulierung wie „Die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt“ oder „Die Freiheit des einen hört da auf, wo das Recht des anderen beginnt“ scheint ein Urheber unbekannt zu sein. Der Gedanke kommt in einem Nat