Von der Scholastik zu Duns Scotus und Ockham

 Thomas ist der Rechten als Traditionalist, Aufklärer und Aristoteliker, als Verehrer und Freund der Vernunft und eines kühl wägenden rationalen Denkens, das sich streng an seine wissenschaftliche Methode hält, verdächtig. Andererseits wirft ihm die Linke vor, er wage es nicht, konsequent seine eigenen Gedanken zu Ende zu denken, und er versuche vor allem, Aristoteles, die Araber und das weltimmanente philosophische Denken unter einen vollkommen unnötigen theologischen Überbau zu stellen und so dessen wahre Bedeutung zu verdecken

Das Geheimnis der schwebenden Mitte, des Denkens und Lebenswerkes des Thomas von Aquin hängt eng mit seiner geschichtlichen Weltstunde und seiner Persönlichkeit zusammen. Sir Henry Slesser hat Tomas [...] den ersten 'Liberalen' genannt. Englische Denker des schöpferischen Kompromisses, eines lebendigen Konservatismus, nicht zuletzt die bedeutenden Theologen der frühen Church of England um Thomas Hooker haben sich bewusst und unbewusst zu Thomas hingezogen gefühlt [...]" (S. 552) 
Thomas ist gegen jeden Obskurantismus und, was für Europas innere Selbstfindung ebenso wichtig ist, er ist gegen jedes Ertränken der Vernunft im Meer des Gefühls, ja des 'Glaubens'. Hier stößt Thomas erstmalig und einmalig mit dem mächtigsten Kopf der älteren Theologie des Abendlandes zusammen – mit Augustin.
Augustin lehrte den Primat des Willens, des Herzens, der emotionalen Kräfte. Thomas lehrt den Primat des Intellekts." (Friedrich Heer, Kindlers Kulturgeschichte Europas Bd 10, S.554/555)
Das wunderschöne Gedankengebäude des Thomas setzt voraus: eine prästabilierte Harmonie von Kirche und Staat, in der 'vernünftige', städtische Menschen leben, bereit, sich freundschaftlich auseinanderzusetzen. Eben diese sehr rationalen, beherrschten Menschen sind gleichzeitig von einem tiefinnerlichen Glauben ergriffen, der in seinem seelischen Bereich die Dogmen und Wahrheiten des Glaubens ebenso 'natürlich' und selbstverständlich akzeptiert wie im Bereich seines Verstandes die Gesetze der Logik und Wissenschaft. Für Thomas sind die beiden Sätze völlig einleuchtend: 'Unsere Auferstehung wird gleichförmig sein der Auferstehung Christi.' Und: 'Der Mensch ist eine Sache der Natur" [...]
Für seine Zeitgenossen und mehr noch für die folgende Generation war das gar nicht einleuchtend. (S.557/558)

Eine unüberbrückbare Kluft geht durch alle Welt und Wirklichkeit. Er wurzelt im franziskanischen Widerstand gegen den Thomismus, gegen die kuriale Weltordnung. Dieser Protest tritt in zwei Formen auf: im Scotismus und im Nominalismus oder Ockmamismus, wie er nach seinem Begründer genannt wird. Der Schotte Johannes Duns Scotus* und der Engländer Wilhelm von Ockham * *   sind Franziskaner." (S.560)

"Duns Scotus [...] der größte Denker des Franziskanerordens [...] lehrt: 'Gott ist durch eine unendliche Distanz vom Geschöpf entfernt.' Er verwirft die Synthese des Thomas, hält sie für ungenügend durchdacht: in ihr wird Gott nicht genügend verehrt und der Mensch in seiner Qualität, Personalität und Freiheit Gott nicht richtig gegenübergestellt. Gott und Mensch, Glaube und Wissen, Theologie und Philosophie sind zunächst durch Abgründe getrennt. Gott ist die Freiheit, der freie ist der Wille, gebunden nur durch die Gesetze der Logik und die beiden ersten Sätze des Dekalogs, nicht aber gebunden an Weltschöpfung, Erlösung und sittliche Ordnung." (S.561)

*"[...] Eine der ersten vollständigen Definitionen für die Sakramente stammt von Scotus. Diese sind sinnlich wahrnehmbare Geschehen, Wirklichkeiten oder Riten, die von Christus eingesetzt wurden, um die von ihm verdienten Heilsgnaden zu bezeichnen, zu erhalten und sie den Menschen durch Menschen im Pilgerstand, im Vollzug des Sakraments durch Spender und Empfänger zu vermitteln. [...] 

Die Handlungen Gottes, aber auch die Gnade Gottes sind unabhängig vom menschlichen Willen. Daraus folgt, dass der Mensch sich die Gnade Gottes nicht verdienen kann. Gnade und Verdienst stehen sich gegenüber. Aus der Offenbarung aber ergibt sich, dass Gott dem Menschen, den er gnädig annimmt, das ewige Leben schenkt." (Duns Scotus)

"Als Gemeinsamkeit innerhalb der scotistischen Positionen gilt die absolute Unabhängigkeit Gottes, das Primat des Willens über die Vernunft und eine deutliche Trennung von Glauben und Erkenntnis. Die Scotisten nahmen im Universalienstreit wie die Thomisten eine gemäßigt realistische Position ein und standen damit gegen den Nominalismus [...]" (Scotismus)

**Ockham "gilt in der Rezeption als ein herausragender Vertreter eines differenzierteren Nominalismus, der die Frage der Universalien mit zeichentheoretischen Überlegungen verband und insofern auf die moderne Sprachlogik verwies. Realität hatten für Ockham nur extramentale Einzeldinge. „Es kann mit Evidenz aufgewiesen werden, dass kein Universale eine extramentale Substanz ist.“[10] Insbesondere verwarf Ockham die Lehre Scotus' von der Artnatur der Einzeldinge, die durch eine Formalunterscheidung gesondert erfassbar wird.[11] Die Allgemeinbegriffe haben keine eigene Existenz, sondern sind nur die Summe der gedachten Dinge. Beispielsweise hat eine einzelne Rose eine reale Existenz, „die Rose“ an sich, als Begriff, hat hingegen nur eine rein gedankliche Existenz.[...]"


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