Universum ohne Moral
Von Zhao Tingyang, ZEIT,12. Juli 2023
[...] Die Moderne ist sicherlich eine große Errungenschaft, doch könnte sie mit der Überheblichkeit des Individuums zerstört werden, wenn dieses das Recht auf die Definition seiner eigenen Identität beansprucht oder jeden Tag als ein anderes Geschlecht anerkannt werden möchte. So verführerisch dies klingt, wird eine Begleiterscheinung davon unvermeidlich in einem Bedeutungsverlust von allem bestehen. Am Ende würde sich der maßlose Individualismus des Westens in sein Gegenteil verkehren und Aufklärung in Gegenaufklärung umschlagen, wenn jeder Begriff, jeder Wert und jede Identität so mehrdeutig werden, dass sie nichts mehr bedeuten und sich in Luft auflösen.
Wir stecken heute in einer tiefen Kulturkrise. Wir sind orientierungslos. Diese Krise
zeugt von der Unfähigkeit, dass wir trotz unserer angeblichen Aufgeklärtheit nicht
in der Lage sind, die Grundbegriffe oder Werte unseres Lebens und unserer Kultur
zu verteidigen. Und deshalb können wir das gegenseitige Misstrauen auch nur
überwinden, wenn wir die vorgefundene Ordnung der Welt nicht länger als
gegeben hinnehmen, so wie es im Übrigen auch der Daoismus lehrt.
[...] Wir müssen uns vom westlichen Glauben verabschieden, wir hätten das Schicksal in unserer Hand. Sind wir bereit für eine neue Ordnung des Kosmos?"
https://www.zeit.de/2023/30/chinesische-philosophie-westen-zukunft/komplettansicht
Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung; aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann; Suhrkamp, Berlin 2020
Rezension von Th. Assheuer, 30.3.2020
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