Geschichtsschreibung, Geschichtsphilosophie und Geschichtsprophetie im Mittelalter

 "Die große europäische Geschichtsschreibung, Geschichtsphilosophie und Geschichtsprophetie sind Kinder des offenen Europa des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Geschichtsschreibung setzt einen offenen Sinn voraus, der sich nachdenklich und froh einer Fülle von Erfahrungen stellt. Geschichtsphilosophie und Geschichtsprophetie setzten die Erfahrung eines großen Schmerzes voraus, eine tiefe Beunruhigung: Welcher Sinn liegt in dem Geschehen der Zeit? Was bedeutet der Zusammenbruch der großen Mächte?

Die bedeutende Geschichtsschreibung in dieser Zeit ist vor allem eine Sache der Angelsachsen, Normannen, dann auch der Franzosen, zuletzt der Spanier. Diese suchen sich und ihren Zeitgenossen Rechenschaft zu geben über den großartigen Aufstieg ihrer Völker zu starken Staaten, aber auch über die Kämpfe innerhalb des eigenen Volkes.
Die Geschichtsphilosophie ist vor allem eine Sache der Deutschen. Diese sind in dem Fall des Heiligen Römischen Reiches, der Schwäche der Kirche, der erstaunlichen und erschreckenden Erfahrung der Pluralität nach. Ostkirche, Byzanz und das Erscheinen der Ketzer wecken hier die Kräfte der Meditation. Wie hängt die Weltgeschichte als ein Prozess des Heils, der Erlösung mit dem offen sichtbaren Prozess des Zerfalls, des Unheils zusammen?
Die Geschichtsprophetie verbindet Deutsche und Italiener. In diesen verbindet sich der Schmerz franziskanischer Spiritualer mit der leidvollen Erfahrung der Vergewaltigung des 'armen italienischen Volkes' durch fremde Herren. In großer Angst wird hier die große Erwartung geboren, die Hoffnung auf einen 'Engelspapst', einen Heilskaiser, einen 'Führer', einen Duce (novus dux = Führer der Neuzeit).

Im geschlossenen Europa des Spätmittelalters sinkt dieses hochgemute Geschichtsdenken zu einer von der Kirche verfolgten religiös-politischen Schwärmerei und Wahrsagerei ab. Die scholastische Universitätswissenschaft kennt keine Geschichte als Wissenschaft, sie übergießt die Visionäre einer neuen Weltgeschichte mit Hohn. Noch die Studienordnung der Jesuiten unterstellt die Geschichte der Rhetorik. Nicht minder mühselig sind die Wege empirischer Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. Es fehlt oft an der Bildung und fast immer an einem offenen unbefangenen Sinn, der sich froh und aufgeschlossen der Geschichte stellt" (Friedrich Heer, Kindlers Kulturgeschichte Europas Bd 10, S.557/568)

"[...] Die Geschichtsschreibung des Mittelalters unterschied sich erheblich von der antiken Historiographie, auch wenn sie an die spätantike Tradition anknüpfte, die das römische Reich als das letzte Weltreich der Geschichte verstanden hatte. Die Geschichtskonzeption bezog sich, wie schon die der Patristik, auf die eschatologische Erwartung des Jüngsten Gerichts, war damit endlich und stand unter dem Einfluss Gottes.[23]

Wichtig für das Verständnis der mittelalterlichen Historiographie ist das Geschichtsverständnis des Isidor von Sevilla im 7. Jahrhundert. Demnach musste der Geschichtsschreiber die Wahrheit berichten und sich auf vergangene Ereignisse beziehen. Ebenso ging es darum, Einblick in den göttlichen Heilsplan zu erhalten bzw. ihn zu verstehen. Er unterschied zwischen Ephemeriden (Tagebüchern), Kalendarien (Berichte, die einige Monate umfassen) und Annalen (Berichte über mehrere Jahre). Die Historia umfasste den Zeitraum vieler Jahre.[24]

Die mittelalterliche Rhetorik verlangte den wahrheitsgetreuen Bericht über seinen Gegenstand, die notitia rerum. Der Anspruch der Rhetorik an die Historia zeigt sich in den Begriffen vera, brevis, dilucida, probabilis (wahr, kurz, deutlich, plausibel). Der Forderung nach Plausibilität wurde entsprochen, wenn die Umstände angegeben und ein sinnvolles Ganzes, gegebenenfalls durch die Annäherung unterschiedlicher Informationen, erstellt wurde. Beda Venerabilis hielt es im ersten Drittel des 8. Jahrhunderts für das wahre Gesetz der Geschichtsschreibung, das allgemein bekannte Erzählgut (fama) zu sammeln und der Nachwelt zur Unterrichtung weiterzugeben. Andere legten Wert auf die Unterscheidung zwischen dem Gerücht und der gesicherten Nachricht, zum Beispiel Rudolf von Fulda im 9. Jahrhundert.

Standen am Anfang auch oft Volkserzählungen, beispielsweise der FrankenGoten und Angelsachsen, im Mittelpunkt, kamen bald auch die Tatenberichte der Päpste hinzu. Durch die Karolingische Renaissance wurde der Blick für die Antike wieder geschärft.

Haupttypen der Geschichtsschreibung waren BiografienAnnalenChroniken und Tatenberichte, wobei die Unterschiede teilweise fließend waren. Gregor von Tours verfasste mit seinen Historiae eine christliche Universalgeschichte, die in den letzten Büchern eine ausführliche Zeitgeschichte und eine wertvolle Quelle zur Geschichte Galliens im 6. Jahrhundert darstellt. Als Chronisten traten beispielsweise Pseudo-FredegarThietmar von MerseburgOtto von St. Blasien und Matthias von Neuenburg hervor, die in lateinischer Sprache schrieben. Annalen wurden bereits in karolingischer Zeit verfasst, zu nennen sind unter anderem die Reichsannalen und die Metzer AnnalenLambert von Hersfeld verfasste im 11. Jahrhundert ebenfalls auf Latein geschichtliche Annalen, um nur einige Beispiele zu nennen. Zunächst waren es vornehmlich Mönche oder Geistliche (teilweise am Hofe), die durch die Kenntnis der Schrift diese Quellen abfassten.[25]

In Skandinavien kam die Zeit der Isländersagas, deren Hauptvertreter Snorri Sturluson war. Er baute zum großen Teil auf bereits vorhandenen Aufzeichnungen auf. Bedeutende Aufschlüsse ergeben auch die Annálar, die in den Skriptorien der Bischofssitze, aber auch auf verschiedenen isländischen Bauernhöfen abgefasst wurden. Im Osten ist es die Nestorchronik, die wesentliche Aufschlüsse über die Reichsbildung der Rus überliefert.

Laut Hugo von St. Victor (um 1128) ist eine wesentliche Voraussetzung für die Geschichtsschreibung die Prüfung der Tatsachen in Bezug auf die Zeit, den Ort und die beteiligten Personen. Die Schilderung soll den Gang der Zeiten in einem kontinuierlichen Zusammenhang darstellen. Hugo sowie vor ihm Einhard und Regino von Prüm betonten, dass die Auswahl des Stoffes nach der Wichtigkeit und Würdigkeit der Ereignisse oder Personen sowie nach seiner Eignung, lehrreiche Beispiele (Exempla) für ein gelungenes Leben zu bilden, vorgenommen werden müsse.

Durch die Kreuzzüge wurde der geographische Horizont erweitert. Wichtige Chronisten für diese Zeit sind unter anderem Fulcher von Chartres und Wilhelm von Tyrus. Im Hochmittelalter erfreuten sich im römisch-deutschen Reich vor allem die Weltchroniken großer Beliebtheit, die das Heilige Römische Reich mit dem Imperium Romanum gleichsetzten und es wie Bischof Otto von Freisings Chronica sive Historia de duabus civitatibus im Sinne der stauferfreundlichen Propaganda in den göttlichen Heilsplan einordnete. Der Geschichtstheologe Joachim von Fiore legte im 12. Jahrhundert insbesondere biblische Exegesen vor und bezog sie auf die zukünftige Heilsgeschichte.

Im 13. Jahrhundert wurde eine große Menge des historischen Materials zusammengestellt. Lange blieb die schematische und trockene Chronik des Martin von Troppau Hauptquelle der Geschichtskenntnis. Später traten Historiker wie Jean FroissartGiovanni VillaniMatteo VillaniMatthäus von ParisSalimbene von Parma u. a. hervor, die überwiegend aus dem weltlichen Bereich stammten.

Im Spätmittelalter machte sich die Hinwendung der Humanisten zur Antike bemerkbar, die mit dem Versuch verbunden war, religiöse Geschichte und weltliche Geschichte zu trennen. Zudem werden immer mehr Werke in den jeweiligen Volkssprachen verfasst.

Auch die Geschichtsschreibung der Städte gewann im Spätmittelalter in Form von Chroniken an Bedeutung, zumal Stadtregierungen in der Darstellung ihrer Geschichte einen politischen Nutzen zu erkennen begannen. Die Wahrheit des Dargestellten versuchten solche Geschichtswerke dadurch zu unterstreichen, dass sie genaue Datierungen enthielten, die sich auf die Autorität der Altvorderen, die als Augenzeugen des Geschehens angeführt wurden, sowie auf Schriftstücke in den Archiven stützten. Die Beteiligung von Ratsherren ging bis hin zur Endkorrektur von Stadtchroniken durch den Rat und verlieh dieser Geschichtsschreibung einen amtlichen Charakter.[26]

Nicht unerwähnt bleiben soll der Venetianer Marco Polo, der als der erste Reiseberichterstatter gilt. Die Authentizität seiner Beschreibungen bleibt bis heute allerdings umstritten. [...]" (Geschichte der Geschichtsschreibung)


sieh auch 

Rasid ad-Din 

"[...] Sein eigenes größtes Werk ist Dschami' at-tawarich, eine im Auftrag der Ilchane verfasste Weltgeschichte, die nur fragmentarisch erhalten ist. Im Abschnitt über die Mongolen wird der Stammbaum Dschingis Khans bis auf Adam zurückgeführt. In der Universalgeschichte, als Teil der Geschichte der Mongolen und Ilchane, von Adam über die Patriarchen bis zu Mohammed und den Kalifen, knüpfte er an die alte Tradition der annalistischen Geschichtsschreibung der Araber an. Dieser Werkteil ist verlorengegangen. In seinem Korankommentar verarbeitete er, den Berichten arabischer Biographen zufolge, sowohl alttestamentliche als auch philosophische Elemente. Er beschäftigte sich auch mit Logik und Philosophie."(https://de.wikipedia.org/wiki/Rasch%C4%ABd_ad-D%C4%ABn)

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