Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter von Dipesh Chakrabarty

Auszug aus einer Leseprobe

 "[...] Laut Haffs Argumentation ist die Menschenpopulation in ihrem derzeitigen Umfang »zutiefst auf die Existenz der Technosphäre angewiesen«, ohne die sie »schnell auf ihren steinzeitlichen Grundwert von nicht mehr als zehn Millionen […] Personen zurückgehen würde«. Mit Haff könnte man also sagen, dass Technologie zu einer Bedingung von Biologie, zur Bedingung für die Existenzeiner so großen Zahl von Menschen auf dem Planeten geworden ist.

Haffs Annahme einer Technosphäre versetzt uns in die Lage zu sehen, wie »entfesselt«, mit Carl Schmitt gesprochen, Technologie heute geworden ist – und wie die Menschen dank technologischer Macht die »Erde« bereits in ein Raumschiff für sich und für andere Lebensformen verwandelt haben, deren eigene Existenz auf das menschliche Gedeihen angewiesen ist. In seinem »Gespräch über den neuen Raum« von 1955 legte Schmitt einem fiktiven Charakter, Herrn Altmann (einem Althistoriker), eine grundlegende Unterscheidung zwischen einem Leben an Land und dem Leben auf einem Schiff auf See in den Mund. »Kern einer terranen Existenz«, behauptete er, seien »Haus und Eigentum, Ehe, Familie und Erbrecht« an der Seite von gezähmten Tieren. Die in dieser Art von Leben vorhandene Technik werde durch all das gehemmt, was ein solches Leben mit sich bringe. Per se sei Technologie in solch einem Leben niemals federführend. Im Zuge der Eroberung der Meere wird nun aber das Schiff zur Verkörperung dessen, was Schmitt als »entfesselte Technik« bezeichnet hat. Im Unterschied zum Haus der terranen Existenz bilde das Schiff, das »schon in sich selbst viel mehr und viel intensiver ein technisches Mittel ist als das Haus«, den Kern der »maritimen Existenz«. Auf einem Schiff (heute an Bord eines Flugzeuges) ist das Leben entscheidend auf das einwandfreie Funktionieren von Technologie angewiesen. Wenn die Technologie versagt, steht das Leben vor einer Katastrophe.

Wenn Haffs Argumentation stimmt, dass die Technosphäre heute zur Grundbedingung des Überlebens von sieben (bald neun) Milliarden Menschen geworden ist, könnte man sagen, dass wir die »Erde« bereits zu so etwas wie Schmitts Schiff gemacht haben, insofern ihr Vermögen, die vielen Milliarden Menschen zu versorgen, mittlerweile von der Existenz der Technosphäre selbst abhängt. [...]

Die »Größenordnung« der Technosphäre »ist schwindelerregend: Mit etwa 30 Trillionen Tonnen steht sie für eine Masse von mehr als 50 Kilo pro Quadratmeter der Erdoberfläche.« »Man kann sagen«, stellt der Geologe Mark Williams fest, »dass die Technosphäre auf der Biosphäre Knospen getrieben hat und mittlerweile zumindest zum Teil zu ihren Parasiten gehört.« Und im Vergleich zur Biosphäre »recycelt sie ihre eigenen Materialien erstaunlich schlecht, wie unsere wachsenden Mülldeponien zeigen«. 

Genauso eindrucksvoll sind die Zahlen, die die Rolle anschaulich machen, die Menschen bei der Umgestaltung der Landschaft des Planeten nicht nur auf seiner Oberfläche, sondern bis hinunter in die Kontinentalplatten gespielt haben. Die Menschen haben die Landfläche und den Meeresboden des Planeten transformiert.

»Spätestens Ende des 20. Jahrhunderts wurden jährlich auf einem Areal von etwa 15 Millionen Quadratkilometern Schleppnetze in der Tiefseefischerei eingesetzt. Dies schließt mittlerweile einen Großteil der Kontinentalplatten der Welt und bedeutende Bereiche der oberen Kontinentalhänge sowie die Oberseiten der Tiefseeberge ein.« Einer Schätzung von 1994 zufolge »wurden auf Veranlassung des Menschen weltweit jährlich 30 Milliarden Tonnen Erde bewegt«. Eine Schätzung von 2001 nennt eine Zahl von 57 Milliarden Tonnen pro Jahr. Zum Vergleich: Die Sedimentmenge, die jedes Jahr weltweit von den Flüssen in die Ozeane getragen wird, liegt zwischen 8,3 und 51,1 Milliarden Tonnen. Die Menschen, sagen der Geologe Colin Waters und seine Kollegen, »setzen auf diese Weise [Bergbau und Steinbrüche] inzwischen mehr Sedimente in Bewegung als alle natürlichen Prozesse zusammen (26 Gt/j.)«.

Diese beträchtliche biologische und geomorphologische Rolle des Menschen lässt sich nicht von der Geschichte trennen, die Kapitalismus und globale Erwärmung verbindet.

Wenn schon all dies und noch viele weitere Faktoren der Einwirkung des Menschen auf den Planeten die Erdsystemforscher:innen darauf schließen lassen, dass der Planet möglicherweise die Grenzen des Holozäns überschritten hat und in ein ganz neues geologisches Zeitalter eingetreten ist, kann man sagen, dass wir Menschen gegenwärtig gleichzeitig in zwei verschiedenen Ausprägungen der Zeit leben, die im Deutschen »Jetztzeit« heißt: In unserer Selbstwahrnehmung hat sich das »Jetzt« der menschlichen Geschichte mit dem langen »Jetzt« der geologischen und biologischen Zeitmaßstäbe vermengt, was in der Menschheitsgeschichte bisher noch nie vorgekommen ist. Zwar sind zweifellos Phänomene im Erdmaßstab – zum Beispiel Erdbeben – über unsere humanistischen Narrative hereingebrochen, aber in den meisten Fällen liefen geologische Ereignisse wie etwa die Auffaltung oder Erosion eines Gebirges so allmählich ab, dass Berge als beständiger, unveränderlicher Hintergrund für menschliche Geschichten galten. In unserer Lebenszeit sind wir uns nun aber bewusst geworden, dass der Hintergrund kein bloßer Hintergrund [...]"

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