Wittgensteins Verständnis von "Bündelbegriffen"

 "[...] Gehörte die Sprachphilosophie Wittgensteins zur Pflichtlektüre von Verfassungsrichtern, so hätte das Gericht längst die Idee des Bündelbegriffs erwogen. An Wittgensteins eigenem Beispiel: Es ist verblüffend schwierig, Spiel zu definieren. Was ist allen Spielen gemeinsam? Es gibt Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Computerspiele und einige mehr. Die meisten Spiele spielt man zu mehreren, manche allein. Beim Schach geht es um Strategie, bei Mikado und Geschicklichkeit, bei den Olympischen Spielen um sportlichen Wettbewerb, In der BDSM-Szene um das Ausleben von Fantasien im Rollenspiel.

Um die Struktur von Bündelbegriffen wie Spiel zu illustrieren, verwendet Wittgenstein die Metapher der Familienähnlichkeit: Je zwei Mitglieder einer Familie haben etwas gemeinsam, aber es braucht kein einzelnes Merkmal zu geben, das allen Familienmitgliedern gemeinsam ist. Bündelbegriffe sind nicht über eine Menge von notwendigen und gemeinsam hinreichenden Bedingungen definiert, sondern durch einen Pool von Merkmalen, aus dem jedes einzelne Spiel eine andere Teilmenge erfüllt.

Es spricht manches dafür, dass auch Frau und Mann mittlerweile Bündelbegriffe sind. Die meisten Frauen besitzen 2X-Chromosomen, Eizellen und eine Gebärmutter. Die meisten Frauen menstruieren im Laufe ihres Lebens, viele können schwanger werden, manchen ist dies aus biologischen Gründen nicht möglich. [...] Die Bündelbegriffs- Auffassung hilft uns einzusehen, dass und warum es keine generelle Antwort auf diese Frage gibt: Streit muss nur geschlichtet werden, wo Merkmale miteinander konkurrieren. Das tun sie aber bei Bündelbegriffen gerade nicht. Der Umstand, dass für Würfelspiele ein Würfel notwendig ist, ändert nichts daran, dass auch Ballspiele Spiele sind. Der Umstand, dass in den meisten Frauen Eizellen heranreifen, schließt nicht aus, dass auch Menschen ohne Eizellen Frauen sein können

Der liberale Rechtsstaat hat sich zunächst einmal nicht dafür zu interessieren, wer sich als Frau oder als Mann fühlt oder identifiziert. [...] 
Die entsprechenden Debatten werden immer dort unproduktiv, wo das gesamte Merkmalsbündel der Bündelbegriffe Mann und Frau zugrunde gelegt wird. Wenn die Diagnose richtig ist, liegt die Therapie auf der Hand: Es ist klüger, die Einstufung einer Person am jeweiligen Regelungsbedarf festzumachen. Für die regelungsbedürftigen Fälle, auch und gerade für die normativen Fragen der Zugangsrechte, sind jeweils unterschiedliche Fasern des Bündels relevant. Es ist nicht in jedem Kontext derselbe Aspekt des Frauseins, der eine bestimmte Einstufung oder Behandlung rechtfertigt. Merkmale, die im jeweiligen Kontext keinen normativen Unterschied machen, bleiben außer Betracht. [...]
In queeren oder feministischen Szenen werden Workshops zu Themen der Sexualität oder auch Sexpartys mitunter separat organisiert: Manche Veranstaltungen stehen nur cis-Frauen offen, andere allen, die sich als Frauen oder nichtbinär identifizieren. Das scheint auch für Saunen eine praktikable Lösung zu sein, die meist bereits heute sowohl gemischtgeschlechtliche als auch nach Geschlechtern getrennt der Tage anbieten.[...]"

Juliane Jüngling und Geert Keil: Wovon hängt ab, wer eine Frau ist? Die ZEIT Nr.51 8.12.22, S.67 

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