"Günther Anders (bürgerlich Günther Siegmund Stern; geboren am 12. Juli 1902 in Breslau; gestorben am 17. Dezember 1992 in Wien) war ein deutsch-österreichischer Philosoph, Dichter und Schriftsteller.
Anders beschäftigte sich mit den ethischen und technischen Herausforderungen seiner Zeit; sein Hauptthema war die Zerstörung der Humanität. Dabei war er Mitbegründer und führende Persönlichkeit der Anti-Atomkraft-Bewegung, dezidierter Technikkritiker und Medienphilosoph [...]"
(Wikipedia)
Der folgende Text ist ur ein kurzer Ausschnitt aus einem Interview von Fritz J. Raddatz mit Günther Anders, veröffentlicht in der ZEIT Nr.13, 22.3.1985:
"[...] die Diskrepanz, die den heutigen Menschen definiert, und nicht nur den heutigen, des Menschen Schicksal ist, nicht mehr identisch ist mit denjenigen Diskrepanzen, die bisher als entscheidende gegolten hatten. Auf die Diskrepanzen zwischen Fleisch und Geist oder zwischen Neigung und Pflicht können wir heute pfeifen. Was zählt, ist heute vielmehr die Diskrepanz zwischen dem, was wir machen und dem, was wir vorstellen können. Nur weil wir unsere Produkte und deren Effekte nicht vorstellen können, haben wir keine Hemmungen, Atombomben zu bauen.* Was ich meine, ist aber, dass wir "invertierte Utopisten" geworden sind: während die viel mehr vorstellen als herstellen konnten, können wir uns leider viel weniger vorstellen als herstellen. Nur, da die Diskrepanz die Ursache unseres Untergangs sein wird – kein gerade unwichtiger Grund – nenne ich nach ihr meine ganze Philosophie.
Dazu kommt noch eine zweite, damit freilich eng verwandte, Diskrepanz: nämlich zwischen dem, was wir früher "unsere Aktivität", "unser Tun" genannt hatten Und dem, was wir heute wirklich "tun". In Wirklichkeit "tun" wir nämlich nichts mehr, im Sinne von "handeln" oder "herstellen". Viel mehr beschränken wir uns darauf (sofern wir das tun), auf bloße Auslöse– Akte, deren Resultate wir nicht nur nicht vorstellen, sondern auch nicht mehr erkennen können. Die Diskrepanz zwischen Auslösung und Effekt ist ein völlig neues, gleichfalls katastrophales Phänomen. Durch die Wörter, "Entfremdung" oder "Verfremdung" ist diese ja nicht mehr beschrieben, denn diese Termine setzen ja voraus, dass man etwas, was vorher vertraut war, nun nachträglich fremd macht. Aber davon ist gar keine Rede. Der heutige Arbeiter oder Politiker macht nicht vorher Vertrautes plötzlich fremd, vielmehr befindet er sich von vornherein in einem Fremdheitszustand gegenüber dem Resultat seiner Tätigkeit: Er denkt überhaupt nicht an sein Resultat.
Wenn sie an einer Maschine stehen, wie ich an einer Maschine gestanden habe, dann ist ihnen nicht nur vollkommen gleich, was da herauskommt, Sie haben es, um es griechisch auszudrücken, auch niemals als eidos vor Augen, und es hätte auch gar keinen Zweck, das eidos vor Augen zu haben. Man arbeitet also telos- und eidoslos. Die Diskrepanz zwischen Produzent und Produkt ist total. Diese Diskrepanz stellt die eigentliche Revolution unserer Epoche dar. Die eigentliche: da so unabhängig von der Wirtschaftsform und eben im Westen, wie Osten vor sich geht, vor sich gegangen ist [...]
Trotzdem glaube ich, dass wir keine andere Aufgabe haben als die, die Menschen mindestens darauf aufmerksam zu machen, dass sie ihre Betriebsamkeit teloslos durchführen, dass am Schluss, aber ein telos herauskommt, das sie gar nicht gemeint hatten, das heißt der allgemeine Untergang. [...]"
Diese Worte von 1985 passen erstaunlich gut auf die Entwicklung der künstlichen Intelligenz der heutigen sprachfähigen Antwortgeber (ChatGPT u.a.)
Anders uns Arendt
"Hannah Arendt, die ihm kurze Zeit später ins Exil nach Paris folgte, brachte ihm das Typoskript seines Romans Die molussische Katakombe nach Paris mit. „Inhalt des Buches war die Mechanik des Nationalsozialismus“; seinen Rahmen bildet die Situation zweier Häftlinge in finsterem Verlies, deren älterer dem jüngeren die Überlieferung des Widerstandes der Paria gegen die totalitäre Herrschaft erzählt. Der Versuch, das Buch im einzigen dafür in Frage kommenden deutschsprachigen Verlag in Paris zu veröffentlichen, scheiterte, nach Anders’ Darstellung, an dem gleichfalls aus Berlin geflüchteten Lektor Manès Sperber, damals ein Partei-Kommunist, der es, so behauptete später Anders, mit der Frage „Und das halten Sie für linientreu?“ ablehnte.[8] Auch die im Frühjahr 1933 in Paris entstandene Novelle Learsi über die Außenseitersituation der deutschen Juden wurde nicht verlegt.[9] Allein der Vortragstext Pathologie de la liberté (Pathologie der Freiheit) erschien in zwei Teilen 1935/36 in der Fachzeitschrift Recherches Philosophiques. Jean-Paul Sartre sagte dazu, der Text habe Einfluss auf die Entstehung des Existentialismus gehabt.[10]
Ein Onkel zweiten Grades von Günther Anders, Walter Benjamin, wurde von Hannah Arendt unterstützt, als er ebenfalls 1933 nach Paris ins Exil ging und dort fast mittellos war; zwischen ihnen ist ein reger Briefwechsel überliefert.
Während Arendt durch ihre Arbeit für zionistische Flüchtlingsorganisationen Geld verdiente, konnte Anders im Pariser Exil kaum etwas zum gemeinsamen Lebensunterhalt beitragen. Unter anderem wegen der wirtschaftlich und menschlich schweren Bedingungen des gemeinsamen Lebens im Quartier Latin zerbrach die Ehe schließlich." (Wikipedia)
"[...] Molussien ist ein fiktives, von einem totalitären System beherrschtes Land. Ort der Handlung sind die Gefängniskatakomben. Es geht in dem Roman um die psychologischen Mechanismen des Nationalsozialismus, im Grunde aber jeder totalitären Herrschaft. Das Buch ist ein meisterhafter literarischer Versuch, der Psychologie von Lüge und Wahrheit auf die Spur zu kommen. Bertolt Brecht hatte das Manuskript an einen Verlag vermittelt, doch Anders konnte den Roman wegen der Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht mehr in Deutschland veröffentlichen. Hannah Arendt brachte ihm das Manuskript ins Exil nach Paris mit. Auch hier und später in den USA scheiterte eine Veröffentlichung des mittlerweile auf 600 Seiten angewachsenen Manuskripts. 1992, in seinem Todesjahr, erschien eine von Günther Anders selbst gekürzte Ausgabe. Der vollständige Text liegt nun mit dieser Ausgabe erstmals vor, ergänzt um ein Nachwort des Herausgebers Gerhard Oberschlick, der ausführlich auf die abenteuerliche Überlieferungsgeschichte des Werkes eingeht." (C.H.Beck)
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