Thomas Mann: Niemöller

"Wer eine Vorstellung hat von der Jurisdiktion eines Nazi-Volksgerichtes, der versteht, was es heißen will, dass Pastor Martin Niemöller durch ein solches Hitler-Volksgericht von der Anklage, die Kanzel zu politischer Agitation missbraucht und sich des Verbrechens gegen Staat und Volk schuldig gemacht zu haben, freigesprochen wurde.*

Das war ein erstaunliche Erfolg seiner Persönlichkeit, denn im Grunde war er schuldig – was Nazis schuldig nennen. Er hatte gesagt: "Das Volk hat kein ewiges Leben, wenn man auch tausendmal seine Ewigkeit behauptet. Er hatte sich als evangelischen Christen bekannt und deutsches Christentum offen verworfen. Er hatte gegen die Vergottung des Staates – und was für eines Staates! – geistige Verwahrung eingelegt.  Und er hatte erklärt: "Wir wollen ohne Murren der Welt geben, was ihr gehört. Aber wenn die Welt fordert, was Gottes ist, dann müssen wir mannhaft Widerstand leisten, dass wir ihr nicht geben, was Gottes ist, und um das Wohlleben in der Fremde willen unsere Heimat verlieren." Das und vieles andere dergleichen, was man in diesen Predigten nachlesen mag,  war politische Agitation – ohne Zweifel. Es wird nämlich jeder, der einen Menschenherz in der Brust hat, zum politischen Agitator, wenn eine Kreatur wie Hitler zur Macht gelangt – wie denn nicht ein christlicher Prediger? Nimm an, du hättest den Beruf des Theologen, des Seelsorger und des Verkünder von Gottes Wort ergriffen, wärest ein Kanzelredner geworden, den Liebe und Glaube inspirieren und an dessen Lippen viele tausend schlichte Seelen hängen.  Die Politik ist dir fremd, sie ist keineswegs dein Feld, denn sie ist "die Welt", als deine Heimat aber empfindest du das Geistige und Ewige. Nimm also an, du wärest ein rein religiöser Mensch, der ganz bereit ist, "dem Kaiser" zu geben, was "des Kaisers" ist,  Aber dessen / eigentliche Anliegen, Gott, Sünde, Erlösung, Tod und Ewigkeit sind. Und nun nimm an, es stellte sich ein Schurke auf, mit Weiberhänden und der Stimme eines bösen, bissigen Kettenhundes und brüllte unter großen Zulauf: "Staat und Volk sind Gott, und ich bin Volk und Staat, folglich bin ich Gott!" – nicht wahr, da müsstest du widersprechen – und im Nu wärest du ein politischer Agitator. Das wäre ganz unvermeidlich, und schuld daran wärest freilich nicht. du, sondern jener Schurke, doch unvermeidlich wäre es. Grenze und Unterschied zwischen Religion und Politik wären plötzlich aufgehoben. Eben nur noch ein populärer Prediger, wärest du von heute auf morgen, du wüsstest nicht wie, zur politischen Figur und deine Kirche zu einem Zentrum der politischen Opposition geworden .
So erging es Pastor Niemöller. Und nochmals, es will etwas heißen, dass er trotzdem von einem Hitler'schen 'Volksgericht' freigesprochen wurde. [...]"          
(Thomas Mann: Politische Schriften und Reden 3, S.124/25; Thomas Mann: Das essayistische Werk Taschenbuchausgabe in acht Bänden, Fischer Bücherei 1968)

* Die Aussage ist nicht ganz korrekt.
"Am 2. März wurde Martin Niemöller zu sieben Monaten Haft verurteilt, die er jedoch durch seine Untersuchungshaft bereits verbüßt hatte.[19] Zu seinen Verteidigern gehörte Hans Koch. Er kam nicht frei, sondern wurde gleich am Ausgang von der Gestapo erneut verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, als „persönlicher Gefangener“ Adolf Hitlers. Seine zunächst geplante Hinrichtung wendete der britische Lordbischof George Kennedy Allen Bell ab, indem er die Presse über den Fall Niemöller informierte. [...]" 
Auf die Festnahme durch die Gestapo und die Haft im KZ geht Th. Mann im Fortgang in seinem Text (von engl. 1941 engl., dt. 1943) ein.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Sinn, Auftrag, Mission am Beispiel des alttestamentlichen Gottesvolks und des heutigen Israel

Universum ohne Moral

Petrusakten